Die Therapie von chronischen Atemwegserkrankungen in Theorie und Praxis
Freud und Leid im Alltag eines niedergelassenen Lungenfacharztes
Warum ist mir dieses Thema wichtig?
Als niedergelassener Facharzt für Lungen- und Bronchialerkrankungen sehe ich tagtäglich die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis und bin damit beschäftigt, den Spagat zwischen zwei Extremen hinzubekommen.
Das Problem: Wie lassen sich Theorie und Praxis besser miteinander vereinbaren? Was ist die Theorie?
Zunächst einmal das, was ich im Studium, in der Facharztausbildung und danach bei regelmäßigen Fortbildungen auf Kongressen, in Qualitätszirkeln und durch die Fachliteratur gelernt habe und ständig neu lerne.
Heute leben wir in der Medizin im Zeitalter der Leitlinien, manche Kollegen sprechen dabei auch von „Leidlinien“.
Leitlinien sind konzentrierte Empfehlungen von nationalen und internationalen Fachgremien, die für die Behandlung wichtiger chronischer (Volks-)Krankheiten erarbeitet werden und sozusagen als Richtschnur für die Behandlung dienen sollen. Sie sind keine strenge Vorschrift im rechtlichen Sinne, aber der Arzt, der von diesen Leitlinien abweicht, muss sich im Zweifel fragen lassen, warum er dies tut.
Leitlinien basieren auf wissenschaftlichen Studien, die die Wirksamkeit und die Verträglichkeit bestimmter Behandlungsmaßnahmen nachweisen. Derartige Studien arbeiten immer mit komplizierten statistischen Modellen, die letztendlich einen durchschnittlichen Menschen/Patienten darstellen. Das heißt sie gehen davon aus, dass die Menschen/Patienten im Wesentlichen gleich sind und sich die Ergebnisse dieser Studien auf zumindest viele (wenn nicht alle) Patienten übertragen lassen. Hier ist sicher schon ein erster wesentlicher Unterschied zwischen Theorie und Praxis begründet.
Die Menschen sind nun mal nicht gleich und werden deshalb auch im Einzelfall nicht so reagieren, wie es die Theorie erwarten lässt. Insbesondere besteht das Problem darin, dass wir kaum Studien für Kinder haben und deshalb viele Medikamente für Kinder offiziell nicht zugelassen sind. Außerdem leben wir in einer Gesellschaft, in der die Menschen immer älter werden. Auch für die Älteren und besonders für die wirklich Alten, das heißt für die über 80-jährigen Menschen, sind die Studienergebnisse oft nicht wirklich zutreffend. Dies vor allem, weil im höherem Lebensalter oftmals mehrere Erkrankungen gleichzeitig bestehen und behandelt werden müssen. Da kommen schnell zwölf und mehr verschiedene Medikamente zusammen. Sie werden von verschiedenen Fachärzten verordnet – und oftmals weiß keiner so recht, was der andere macht. Die Wechselwirkungen der verschiedenen Therapien sind dann kaum noch zu überschauen und führen oftmals zu Problemen. Auch die Therapietreue lässt natürlich mit der steigenden Anzahl der verordneten Medikamente stark nach, so dass dann die Behandlung nur noch unvollständig vom Patienten durchgeführt wird. So kommt die Theorie in der praktischen Anwendung ganz schnell an ihre Grenzen.
Was die Leitlinien beschreiben
Zunächst einmal möchte ich die Theorie, das heißt die aktuell gültigen Leitlinien für die Diagnostik und Therapie der beiden wichtigen chronischen Atmungserkrankungen Asthma bronchiale und COPD darstellen:
Asthma – Was ist das?
Asthma ist eine entzündliche Erkrankung der Atemwege (= Bronchien) mit bronchialer Überempfindlichkeit und anfallsweiser Verengung der Bronchien, was sich als Atemnot mit oder ohne Husten und zähem Schleim bemerkbar macht, verbunden mit pfeifenden Atemgeräuschen und einer Behinderung der Ausatmung. Oft, aber längst nicht immer, spielen Allergien als Auslöser eine Rolle. Häufig tritt die Erkrankung bereits im frühen Lebensalter auf. Unter Therapie oder in Phasen der Allergenfreiheit sind die Betroffenen beschwerdefrei und die Lungenfunktion ist normal.
COPD – Was ist das?
Die COPD (Chronic Obstructive Pulmonary Disease) ist eine chronische Erkrankung der Atemwege, meist ausgelöst durch exogene Noxen (Schadstoffe und externe Einflüsse), das heißt konkret: bei mehr als 80 Prozent der Betroffenen durch das Rauchen. Der Beginn ist schleichend, meist mit Husten und Auswurf (Raucherhusten) und einer zunehmenden, anfangs oft nicht als krankhaft wahrgenommenen Atemnot bei körperlichen Anstrengungen. Charakteristisch sind die Irreversibilität (Unbeeinflussbarkeit) der Schäden und die Lungenfunktionseinschränkungen. Trotz einer ausreichenden Therapie ist in der Regel keine Rückbildung der eingetretenen Lungenfunktionseinschränkungen zu erreichen.
Als Grundlage für die Beurteilung und die Therapie gibt es für beide Erkrankungen eine Schweregradeinteilung.
Die Schweregrade beim Asthma
Beim Asthma bronchiale haben wir dabei inzwischen wieder einmal eine neue, noch einfachere Einteilung, und zwar in drei Schweregrade: kontrolliertes, teilweise kontrolliertes und nicht oder schlecht kontrolliertes Asthma.
Grundlage für diese Einteilung sind Art und Häufigkeit von Beschwerden, Medikamentenverbrauch und anderes mehr.
- Beim kontrollierten Asthma ist der Betroffene beschwerdefrei, die regelmäßigen Peak-Flow-Messungen (PFM) sind konstant auf gutem Niveau mit nur geringen Schwankungen, es treten keine nächtlichen Beschwerden auf, eine Bedarfsmedikation wird kaum gebraucht.
- Beim teilweise kontrollierten Asthma kommt es gelegentlich zu Beschwerden, die PFM-Schwankungen sind auf gutem Niveau ausgeprägter, die Bedarfsmedikation wird immer wieder einmal benötigt.
- Beim unkontrollierten Asthma bestehen ständige Beschwerden, die PFM-Werte schwanken stark auf niedrigem Niveau. Der ständige Gebrauch des Bedarfssprays, nächtliche Atemnotanfälle und Notarztbedarf sind an der Tagesordnung.
Sie sehen also, dass die Asthmaschweregradeinteilung sich vorwiegend an den Symptomen orientiert.
Die Schweregrade bei der COPD
Bei der COPD ist das alles etwas anders. Hier gibt es vier Schweregrade, die durch die Ergebnisse der Lungenfunktionsprüfung (Einschränkung des Atemstoßtests, auch Einsekundenkapazität oder FEV1 genannt) unterschieden werden.
Wir haben also eine ganz andere Grundlage für die Beurteilung der Erkrankung, nämlich einen Messwert, der dann gemäß der aktuellen wissenschaftlichen Grundlagen die Basis für die Therapie(-entscheidung) darstellt.
Die notwendige Therapie orientiert sich in beiden Fällen am Schweregrad der Erkrankung. Beim Asthma also sehr nah an den subjektiven Beschwerden, bei der COPD an einem „objektiven“ Lungenfunktionswert, der sehr oft nicht übereinstimmt mit den subjektiven Beschwerden, die der Patient empfindet. Hier liegt eine der wesentlichen Ursachen für die Differenzen zwischen Theorie und Praxis in der Behandlung.
Die Therapie beim Asthma
Beim Asthma soll die Behandlung folgendermaßen durchgeführt werden:
Bei nur seltenen leichten Atembeschwerden (einmal in der Woche, maximal zweimal im Monat in der Nacht) ist eine Medikation mit einem „Asthmaspray“, in der Regel ein kurzwirksames atemwegserweiterndes Spray, bei Bedarf ausreichend.
Bei häufigeren, auch nächtlichen Beschwerden wird dann zusätzlich eine Therapie mit inhalativem Cortison regelmäßig zweimal täglich in einer niedrigen Dosierung durchgeführt, die bei unzureichender Besserung in eine mittelhohe Dosierung umgewandelt wird. Reicht das nicht, um eine gute Asthmakontrolle zu erreichen, werden zusätzlich langwirksame Bronchialerweiterer regelmäßig zweimal täglich inhaliert. Wenn auch das nicht ausreicht, kann die inhalative Cortisontherapie auf eine hohe Dosis gesteigert werden, zusätzlich kann Theophyllin als Tablette zum Schlucken, eventuell auch ein Leukotrienantagonist eingesetzt werden.
Als letzte Stufe der Therapieeskalation werden Cortisontabletten verordnet, meist als sogenannte Stoßtherapie über einige Tage, in sehr schweren Fällen auch als Dauertherapie. Dann aber in der geringsten möglichen Dosierung.
Immer soll der Asthmatiker seine Krankheit durch die regelmäßige Messung des Peak-Flow selbst kontrollieren. Die Therapie wird den Ergebnissen der Asthmakontrolle angepasst, das heißt entweder gesteigert oder abgebaut.
Die Therapie bei der COPD
Bei der COPD soll die Behandlung nach dem folgenden Schema durchgeführt werden:
Für alle Schweregrade gilt die Vermeidung schädigender äußerer Einflüsse (in der Regel das Rauchen) als grundsätzliches Gebot. Regelmäßige Grippeschutzimpfungen und ab Schweregrad 2 auch die Impfung gegen Pneumokokken sollten unbedingt durchgeführt werden.
Die leichte COPD (Stadium 1) wird mit einem kurzwirksamen bronchialerweiternden Spray als Bedarfsmedikation behandelt.
Ab dem Stadium 2 kommen langwirksame Bronchialerweiterer als Dauertherapie zur Anwendung. Dabei stehen uns zwei Präparategruppen zur Verfügung: Die langwirksamen „Asthmasprays“ und das langwirksame Anticholinergikum. Diese werden einzeln oder in Kombination eingesetzt.
Bei den höheren Schweregraden 3 und 4 sollte zusätzlich inhalatives Cortison dann eingesetzt werden, wenn häufige Verschlechterungen (Infekte) auftreten. Zusätzlich kann dann auch ein Therapieversuch mit Theophyllin durchgeführt werden, wobei diese Therapie aber in stabilen Phasen immer wieder durch Auslassversuche überprüft werden sollte.
Bei akuten Verschlechterungen – wir sprechen dann von Exazerbationen, meist durch Bronchialinfekte – ist eine Cortisonstoßtherapie mit zum Beispiel 40 Milligramm Prednisolon über zwei Wochen erforderlich. Eine Antibiotikatherapie wird nur bei sicheren Hinweisen auf einen bakteriellen Infekt durchgeführt. Eine Cortisondauertherapie bei der COPD ist nach den heutigen Erkenntnissen nicht sinnvoll. Auch bei der COPD wird nach den Leitlinien und in den Schulungsprogrammen die regelmäßige Selbstkontrolle mit dem Peak-Flow-Meter empfohlen.
Soweit die theoretischen Grundlagen in aller Kürze.
Die Leitlinientheorie und die Situation in der Praxis
Wie sieht es nun in der ärztlichen Praxis aus. Beim Fußball sagt eine alte Regel: „Entscheidend ist, was auf dem Platz geschieht“ … und ähnlich ist es auch in der ärztlichen Praxis.
Bei der Behandlung des Asthma bronchiale (wir erinnern uns, es sind oft junge Menschen betroffen) sehen wir häufig eine Untertherapie. Bestehende Beschwerden werden nicht wahrgenommen oder ignoriert, man ist „gesund und fit“. Die regelmäßige Peak-Flow-Messung ist lästig, erinnert nur ständig an die verdrängte Krankheit und schläft innerhalb der ersten sechs Monate nach Beginn wieder völlig ein. Das Peak-Flow-Meter landet dann dort, wo auch andere gut gemeinte Hilfsmittel wie Kompressionsstrümpfe, Hörgeräte und Ähnliches innerhalb kurzer Zeit landen – nämlich in einer Schublade meist im Nachttisch.
Die inhalative Cortisontherapie wird weggelassen, wegen unzureichender Kenntnisse und wegen der tief verwurzelten Vorurteile bezüglich dieser Therapie.
„Außerdem hilft das ja auch gar nicht, wenn ich Atemnot habe“.
Das Resultat ist dann oftmals die notfallmäßige Vorstellung in einer Krankenhausambulanz meist nachts und am Wochenende.
Besonders prekär wird es, wenn in Ignoranz der bestehenden Erkenntnisse zur Asthmatherapie das („nicht wirksame und gefährliche Cortison“) weggelassen wird und die Therapie nur mit den gut wirkenden langwirksamen Bronchialerweiterern fortgesetzt wird.
Im letzten Jahr musste ich deshalb erfahren, dass ein etwa 50-jähriger Asthmatiker, der seit zwei Jahren nicht mehr zu Kontrollen gekommen war, im akuten Asthmaanfall verstorben ist. Einem zweiten Patienten wurde nur durch Glück und durch die sofort zur Verfügung stehende ärztliche Hilfe eine solche Katastrophe erspart. Er überlebte allerdings auf Kosten eines Hirnschadens infolge Sauerstoffmangels. Beide Patienten hatten die zur Behandlung ihrer Asthmaerkrankung notwendige inhalative Cortisontherapie einfach nicht durchgeführt!
Bei der Behandlung der COPD ist es oftmals umgekehrt. Es findet eine Übertherapie statt. Wenn ich einen Patienten nach den oben dargelegten Leitlinien behandele, passiert es immer wieder, dass seine subjektiven Beschwerden nicht besser werden und er deshalb nach einer intensivierten Therapie fragt. Die dann in aller Regel auch versucht wird. Die subjektiven Beschwerden und die objektiv messbaren Einschränkungen klaffen oft weit auseinander. Der Patient glaubt, daran sei der Arzt schuld, „weil der mir die guten Medikamente nicht verschreiben will.“ Der Arzt seinerseits kann aber angesichts der Befunde eine andere Therapie gar nicht verantworten.
Inhalatives Cortison und insbesondere Cortisontabletten sind bei der COPD nach der Theorie eigentlich nur bei bestimmten Problemen sinnvoll, werden aber sicher sehr viel häufiger eingesetzt, als es die Theorie erfordert. Versuche seitens des Arztes, solche Therapien zu beenden, lösen oft schwere Verstimmungen der Betroffenen aus. Langjährig chronisch Kranke beharren immer wieder auf der Therapie, die vor 20 oder 30 Jahren eingeleitet wurde, obwohl es erfreulicherweise doch den einen oder anderen Fortschritt in der Medizin seither gegeben hat.
Die Beurteilung der Therapie ist also letztlich vorwiegend eine subjektive, die durch den Patienten getroffen wird. Das darf nicht dazu führen, dass der Arzt aufhört, seine Patienten auf „den richtigen Weg zu führen“. Aber oftmals muss auch der Arzt die Ansichten und Meinungen des Patienten akzeptieren, wenn der Patient durch noch so gute Argumente nicht zu überzeugen ist.
Dann gilt das Motto erst einmal: „So ist es nun halt“ und man versucht im nächsten Gespräch seinen Patienten endlich doch zu überzeugen.
Wir alle wissen: Voraussetzung einer guten, sinnvollen und wirksamen Behandlung ist ein offener Dialog zwischen dem Patienten und seinem behandelnden Arzt, zu dem ich Sie hiermit dringend auffordern will. Nur auf der Grundlage klarer Positionen kann auf Dauer eine optimale Therapie für jeden ganz persönlich und unabhängig von Leitlinien erarbeitet werden.
Zum Schluss hier meine ganz persönlichen Highlights bezüglich Theorie und Praxis der Behandlung chronischer Atemerkrankungen, „meine Freuds und Leids“ (Der Leser ist natürlich von der möglichen Kritik ausgenommen):
- Peak-Flow-Messungen sind beim Asthma bronchiale hilfreich und nötig, werden aber selten regelmäßig durchgeführt.
- Peak-Flow-Messungen sind bei der COPD oftmals wenig hilfreich, werden aber immer in den Leitlinien und Schulungsprogrammen propagiert und deshalb auch häufig ohne Nutzen akribisch durchgeführt.
- Cortisontherapie mit Inhalationen ist ungefährlich, besonders beim Asthma bronchiale, aber oft notwendig und wird wegen unzureichender Kenntnis oft nicht angewandt.
- Cortisontherapie ist bei der COPD selten notwendig, wird aber sicher zu häufig angewandt, Auslassversuche werden dabei häufig von vornherein abgelehnt.
- Generell wird die Therapie oft nicht im empfohlenen Umfang durchgeführt, wodurch es dem behandelnden Arzt oft unmöglich ist, die Effektivität und die Notwendigkeit einer Therapie wirklich beurteilen zu können. Die heute üblichen modernen Praxissysteme machen den Medikamentenverbrauch ohne Probleme nachvollziehbar, wenn ich also für drei Monate Medikamente verordnet habe und davon nach sechs Monaten immer noch etwas übrig ist, wurde die Behandlung einfach nicht wie empfohlen durchgeführt. Dies ist ja prinzipiell kein Problem, im Zweifel schadet sich der Patient aber selbst. Man sollte dann offen darüber reden, dass und weshalb die Therapie nicht wie empfohlen durchgeführt wurde.
- Die immer wieder neuen, zunehmend verschärften gesetzlichen und administrativen Vorgaben behindern Arzt und Patient in der Durchführung einer vernünftigen, auch leitliniengerechten Therapie. Aufgrund von uns Ärzten nicht bekannten Rabattverträgen der Krankenkassen bekommen Patienten je nach Gusto beim Apotheker immer wieder ein anderes als das ihnen bekannte Medikament. Dadurch werden das Vertrauen des Patienten in die Therapie und die Therapietreue sicher erheblich zusätzlich und negativ beeinträchtigt.
Hier sollten Patienten, Betroffene, Bürger und Wähler Fragen an die Politik, die Krankenkassen und auch an ihre behandelnden Ärzte herantragen, damit die persönliche Therapie auch in Zukunft durch den Arzt ihres Vertrauens bestimmt wird und nicht durch einen Krankenkassencomputer, der nach Diagnosestellung eine leitliniengerechte Therapie für sie bestimmt.
Gerhard Fröde, Mainz
niedergelassener Internist, Pneumologe, Allergologe
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